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„Ich will etwas schaffen, das in Resonanz zum Betrachter tritt.“

Aus der Eröffnungsrede von Achim Weinberg zur Ausstellung Wolfgang Walter – Maria Seidenschwann, Stadttheater Fürth

„Das Geheimnis der Oberfläche“ ist der wunderbare Titel dieser Ausstellung. – Wollen wir das Geheimnis lüften? – Nein! Denn das Geheimnisvolle, nicht vollständig Erklärbare, liegt im Wesen guter Kunst. Aber wir können den Geheimnissen näher kommen, indem wir uns die Oberflächen ganz genau anschauen, denn sie besitzen eine enorme Tiefe. Die Betrachtung dieser Oberflächen berührt eines meiner Lieblingsthemen in der Malerei: die Fernsicht und die Nahsicht. Das klingt erst einmal relativ banal. Natürlich kann ich ein Bild von nah und von fern betrachten, doch gerade Wolfgang Walter führt uns vor, wie groß das Spannungsfeld dieser beiden Wahrnehmungen ist. Komposition und Oberfläche, Mikro- und Makrokosmos.
    Wolfgang Walter spricht hier von „Dynamischer Ruhe“. Im großen Ganzen strebt er eine ausgewogene Ruhe seiner Bildgestaltung an. In der Nahsicht hingegen offenbaren sich all die dynamischen Spuren seines lebhaften Arbeitsprozesses. Lassen Sie Ihren Blick über die Oberflächen gleiten. Lassen Sie sich überraschen von all den Strukturen, Schichten und Überlagerungen. Von relief­artigen Erhöhungen, von Bergen und Tälern, Schluchten und Seen. Von Spuren, Kratzern, Verletzungen. Von überraschenden Farbwechseln. Und wechseln Sie dann wieder in die Fernsicht und genießen Sie die Komposition als Ganzes, den Farbklang, Ruhe und Dynamik.

Um dem Geheimnis der Bilder auf die Spur zu kommen, können wir auch fragen, welchen Lebensweg dieser Künstler hinter sich hat. – Bringt uns das seiner Kunst näher? – Ich denke ja, denn hier finden wir einige Antworten, warum diese Bilder so sind und nicht anders.
    Wolfgang Walter war bereits praktizierender Psychologe, Mitte 30, als er sich entschloss, Künstler zu werden. Die Malerei hat bei ihm das Aikido abgelöst. Denn bis dahin praktizierte er intensiv die defensive japanische Kampfkunst, er ist ein Meister darin.
    Psychologie – Aikido – Kunst, was für eine spannende Kombination. Doch zurück zu den Anfängen. Seine Initialzündung hatte Walter in den 1990er Jahren in einer Ausstellung der Klasse Neuper. Hier wurde Sand mit Holzleim auf Bilder geschichtet. Dieser Umgang mit ­Material faszinierte Walter, und so wurde Klaus Neuper zu seinem ersten Lehrer. Später folgte ein weiteres Studium bei Peter Tomschiczek in Bad Reichenhall.
    Das Arbeiten mit „Material“ ist für Walter damals wie heute entscheidend. Wie verhält es sich mit Material in der Malerei? Wolfgang Walter benutzt kaum Pinsel. – Ist es dann überhaupt Malerei?

Schauen wir uns deshalb den Arbeitsprozess des Künstlers an. Über Jahrzehnte hat Walter seine ganz eigene Technik entwickelt. Er arbeitet ohne Skizzen und Entwürfe, das Bild entsteht im Prozess. Es mag vielleicht am Anfang eine Ahnung geben, ob auf der Leinwand nun ein ruhiges oder ein lebhaftes Bild entstehen soll, vielleicht existiert auch schon eine vage Farbvorstellung. Doch, ob es am Ende tatsächlich ein rotes Bild ist, wie anfangs gedacht, oder vielleicht ein weißes, das entwickelt sich in vielen Schritten. Es ist dies ein Prozess, der mit einem hohen Risiko verbunden ist – dem Risiko des Scheiterns. Dieses Risiko nimmt er in Kauf, weil dieser Prozess gleichzeitig die große Chance in sich birgt, Neuland zu betreten, die Chance der Entwicklung.
    Für Walter sind die Schichten entscheidend. „Die Oberfläche ist Fassade, die Schichten sind Geschichte“, so sagt er. Denn in die Oberfläche ist alles eingeschrieben – sie hat alles gespeichert, alles was auf ihr passiert ist. Und die freigelegten Schichten offenbaren uns den Prozess, sie erzählen uns Geschichte.
    Wolfgang Walter beschreibt seinen Arbeitsprozess so: Das Bild liegt auf dem Boden oder Tisch. Material wird aufgebracht. Hierbei kommen vor allem Marmormehl und Sumpfkalk zum Einsatz. Diese selbsthergestellte Spachtelmasse ist der erste Malprozess. Gültigkeit wird geschaffen, Halt wird gegeben. Die frühzeitigen Entscheidungen schaffen die Anlage des Bildes. Es folgt der Nassprozess: Das Aufbringen von Farbe durch Schüttungen und Sprühungen. In einem Wiege-Prozess wird die Fläche bewegt – die Steuerung des unkalkulierbaren Flusses. Es folgt der Trocknungsprozess. Die Spachtelmasse trocknet mit dem ersten Farbauftrag – Oberflächen reißen auf. Nun die Entscheidung: nochmals Material aufbringen oder eine erneute Schüttung. Dieser Vorgang wiederholt sich einige Male. Walter sagt, das Bild spreche mit ihm: Es brauche Licht, Halt, Überraschung. Zeichnung kommt hinzu, Kreide oder Ritzungen mit dem Spachtel. Die letzten fünf Prozent kosten sehr viel Zeit … und Wille. Bis zur Entspannung im Solarplexus (Walter fasst sich an das Brustbein). „Dann weiß ich, es ist gut.“ Der Prozess vollzieht sich über Wochen. Dann eine erneute Überprüfung.
    An dieser Stelle eine Empfehlung: Sehen Sie sich die kurzen Filme auf seiner Webseite an! Der Künstler Christian Oberlander hat den eben beschrie­benen Prozess ganz wunderbar in Nahsicht eingefangen. Was da zu sehen ist, sieht nicht wie ein Malprozess aus. Da fließt und staubt es, Strudel bilden sich. Hier hat man eher den Eindruck, dabei zu sein, wie gerade aus den Urelementen die Erde entsteht. Dabei ist das Zerstören Teil des Schaffensprozesses. Dieser ist laut Walter eine körperliche Aktion, spontan, heftig, zügig. „Dabei übertölple ich den Geist durch irrationale Aktionen“, sagt er, „Ausschalten des konzeptionellen Kopfes. Es geht um Befreiung, ungebändigt, mutig – die Befreiung aus dem Gefängnis des Rechtecks“.

Walter steht dem Informel nahe, einer Kunstrichtung, die ihren Ursprung im Paris der Nachkriegszeit hat. Informel bezeichnet „Formlosigkeit“, es geht um die Befreiung vom Gegenstand auf eine abstrakte, nicht-geometrische Weise. Auf meine Frage nach Vorbildern nennt er mir den Spanier Antoni Tapies, einer der wichtigsten Vertreter des Informel. Dazu fügt sich auch, dass Walter weitgehend auf inhaltliche Titel verzichten. „Ohne Titel“, heißt es da meistens, oder es wird mit einer technischen Beschreibung, wie beispielsweise „Form mit Ritzungen“, betitelt.

Welche Rolle spielen die Farben in seinen Bildern? Walters Kolorit ist reduziert. „Mehr als drei Farben findest du kaum“, ist eine Aussage hierzu. Da gibt es die Neigung zum Monochromen in einigen Werken, man denke an die starken roten Bilder. Intensive Farbwirkungen erzielt Walter auch durch frei aufgebrachtes Pigment. Generell ist die „Palette“ jedoch dominiert von Sand-, Grau- und Brauntönen. Durch seine Schüttungen entstehen feine Tönungen. Die Farbigkeit hat einen sehr natürlichen Charakter, assoziiert Sand und Erde. Im Zusammenspiel mit den reliefartigen Oberflächen – wir erinnern uns an das Marmormehl – entsteht der Eindruck von verwitterten Steintafeln. Man könnte meinen, die Bilder wären nicht von Menschenhand sondern durch Natureinwirkung entstanden.
    Seine spezielle Technik der aufgerissenen Oberfläche hat Walter zur Meisterschaft gebracht. Sie schafft oft starke Kontraste, zum Beispiel wenn unter einer weißen Oberfläche in den Rissen ein darunter liegendes Rot hervortritt. „Mit Material arbeiten erfordert Materialwissen“, so Walter. Eine technische Herausforderung war es, diese Oberflächen mit ihrer rauen Brüchigkeit, malerisch zu sichern.

Nun könnte man sich fragen: Wovon handeln diese Bilder? Haben sie ein Thema, oder ist das hier egal?! – Lassen Sie mich kurz ausholen, und zeigen, wie unterschiedlich, ja gegensätzlich abstrakte Maler die Wirkung ihrer Farben empfinden. Am sachlichsten sind wohl die Konkreten Künstler, sie sind der Auffassung: Wenn ich ein Rot male, dann ist es Rot, sonst nichts. Demgegenüber nannte Rothko seine Farbfeldmalereien „Tragödien“, und die Besucher seiner Ausstellungen haben vor seinen Bildern geweint.
    Es ist eine andere Sprache, die diese Bilder sprechen. Sie sagen nicht „Baum, Berg oder Kopf.“ Ihre Botschaft ist Bewegung und Energie, Ruhe und Balance. Sie wenden sich ganz unmittelbar an unsere Sinne, an unser Gemüt, ohne den Umweg über den Gegenstand. Man könnte auch sagen, sie sprechen direkt zu unserer Seele.
    Den Psychologen Wolfgang Walter auf einen Zusammenhang von Psychologie und Malerei angesprochen, betont er: „Ich arbeite nichts auf. Ich will etwas schaffen, das in Resonanz zum Betrachter tritt. Der Ausdruck wird zum Eindruck.“ Diese Art von Malerei mache seine Persönlichkeit sichtbar, elementar, wild, anarchisch. … Es gehe um Kraft und Ruhe. Und abschließend sagt er: „Ich glaube, ich kann jemanden gut in die Ruhe bringen.“

Achim Weinberg
Nürnberg, im September 2022
 

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